Exklusiv-Interview mit Andreas Thiel: Die „Dorfköniginnen“ und der „schmutzige“ Trick zur rechten Zeit

29.04.2014 – SPORT4Final:

Andreas Thiel exklusiv: Beide sind sie die größten deutschen Torhüter-Legenden im Handball: Wieland Schmidt in der ehemaligen DDR und Andreas Thiel, der „Hexer” aus der alten Bundesrepublik. SPORT4Final-Redakteur Frank Zepp hatte anlässlich des Pokal-Final4 in Leipzig die Gelegenheit, mit Andreas Thiel, Abteilungsleiter Handball bei Bayer Leverkusen und Justitiar der HBF, ausführlich über den Handball und vieles andere zu sprechen.

Andreas Thiel zeigte sich als „Mann der klaren Worte“, ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Dabei ging es auch um Otto Rehhagel und seine Griechen, den Fußball-Torhüter Bert Trautmann, Manfred Hofmann, die Hockey-Frauen sowie die „Dorfköniginnen“ und den THW Kiel …

Doch genießen Sie selbst, geneigte Leser, das folgende Exklusiv-Interview …   

Pokal-Final4 2014 Leipzig: Andreas Thiel, Peter Rauchfuß, Renate Wolf (v.l.) - Foto: SPORT4Final
Pokal-Final4 2014 Leipzig: Andreas Thiel, Peter Rauchfuß, Renate Wolf (v.l.) – Foto: SPORT4Final

 

Was sagen Ihnen die Zahlen 2, 3, 5, 6, 7 und 430?

Andreas Thiel: „430 Bundesligaspiele oder Siebenmeter.“

Es waren 430 Siebenmeter in Ihrer gesamten Bundesligakarriere …

Andreas Thiel: „Da lügt die Statistik. Es waren viel, viel mehr. (lacht)“

Gestern machten Sie aber Understatement …

Andreas Thiel: „Das meine ich aber durchaus ehrlich. Wieland Schmidt war schon in meinen Augen bislang der beste deutsche Torhüter. Das mache ich vor allem daran fest, dass er in den Spielen der DDR bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen die entscheidenden Bälle gehalten hat. Das ist das Plus mehr gegenüber anderen.“

Aber die Zahl 7 war neben den beiden Siegen im Europapokal der Landesmeister die bemerkenswerteste Ziffer für mich. Siebenfacher Handballer des Jahres, davon fünfmal in Folge in der alten Bundesrepublik …

Andreas Thiel: „Ja, das war aber klar – klar war ich gut (lacht) und ein Torhüter mit hinreichenden Fähigkeiten. Aber das war natürlich auch den 80er Jahren in der Bundesrepublik und dem Umstand geschuldet, dass es damals keine „goldene Generation“ im Feld gab, die dann in den 90ern und Anfang 2000 gespielt hat. Mit Stephan, Bauer, Kretzschmar, Schwarzer, mit Zerbe, Petersen und so.“

Die 80er Generation war nach dem WM-Titel 1978 nicht so ganz die „goldene Generation“?

Andreas Thiel: „Nicht unbedingt. Wir haben zwar 1984 Silber in Los Angeles geholt bei den Boykottspielen. Deswegen hängt da auch immer ein offizieller Pressemakel dran. Wobei ich in der Rückschau sage: 1986 waren bei der nächsten Weltmeisterschaft unter den ersten Sieben mit Ausnahme der DDR die Mannschaften, die auch zwei Jahre vorher im Wesentlichen dabei waren. Es war kein schlechtes Turnier, es war eine Olympiade – es war auch o.k. Aber wir waren danach halt 1986 nur Siebenter, dann die Katastrophe 1989 mit der Olympiaqualifikation in Frankreich, die wir nicht geschafft haben und die WM-Qualifikation. Dann hat uns halt die DDR nach der Wende wieder die Erstklassigkeit beschert.“

Noch ein kurzer Blick in die Historie: Sie haben 1982 gegen Großwallstadt in einem Spiel sechs Siebenmeter gehalten und Ihren „Hexer“-Spitznamen bekommen …

Andreas Thiel: „Der eigentliche ‚Ursprungs-Hexer‘ in der Bundesrepublik war ja Manfred Hofmann mit der legendären Parade in der Olympiaqualifikation in Karl-Marx-Stadt gegen die DDR in der letzten Sekunde. Und ein paar Jahre später haben wir in Großwallstadt gespielt und dann hieß es, der Nachfolger des „Hexers“ sei in dessen Heimat gefunden worden. So ist der Name auf mich übergegangen.“

Zurück in die Aktualität: Sie verfolgen ja sowohl den Männer- als auch Frauen-Handball. Wie schätzen Sie beide Entwicklungen ein?

Andreas Thiel: „Wenn man den Blick auf die internationalen Aussichten des deutschen Handballbundes richtet, sind die Frauen sicherlich ein Stückchen weiter. Das ist unbestritten.

[private]

Wobei der Stellenwert der Vereinsmannschaften im deutschen Frauen-Handball international da nicht ganz mitkommt. Ein Champions-League-Halbfinale ist, auch wenn es Thüringen in diesem Jahr fast geschafft hätte, eigentlich außerhalb aller Wahrscheinlichkeiten. Die Spiele in der Spitze sind ohne Frage von hohen technischen Fertigkeiten geprägt und auch gut anzuschauen. Auch für einen, der sich nur für Handball interessiert, weil der körperliche Aspekt, der den Männerhandball heute ja extrem prägt, einfach fehlt. Um auf Vereinsebene oben mitzuspielen, müssten sich einfach gesellschaftliche Bedingungen verändern. Jede Frau in einer Spielsportart in diesem Land, das schließt den Fußball ein, ist eine Randsportart. Das sind ‚Dorfköniginnen‘.“

Auch medial …

Andreas Thiel: „Ja. Fußball, gut der wird vom DFB gepusht, aber die haben auch Kohle ohne Ende. Im Kern: Wer guckt schon ein Frauen-Fußballspiel, da gucken ja mehr Hallenhandball.“

Die Männervereine sind international erfolgreich, weil sie auf den Schlüsselpositionen Weltklassespieler haben.

Andreas Thiel: „Weltklassespieler spielen, aber da ist natürlich auch deutlich mehr Geld im Spiel. Der Männer-Vereins-Handball in Deutschland ist gut und bei der Nationalmannschaft muss man sehen. Auch wenn es jetzt gegen Polen im Sommer nicht klappen sollte, ist es so ein Drama ja nicht mehr. Wenn man sich den internationalen Wettkampfkalender anguckt, kommt jedes Jahr ein großes Turnier. Danach eben wieder eine Europameisterschaft. Auch für Olympia kann man es immer noch über die Europameisterschaft und die Qualifikationsturniere hinkriegen. Also, das Drama sehe ich im Moment nicht. Aber Tatsache ist, dass uns im Moment auf den Schlüsselpositionen im Rückraum Leute fehlen, die international hohe Qualität haben. Die haben wir nicht. Wir lösen das an guten Tagen durch mannschaftliche Geschlossenheit und durch eine gute Defensive einschließlich Torhüter. Aber um mal berechenbar planen zu können, dieses Spiel gegen den oder den gewinne ich mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent, das haben wir nicht. Das war früher, wenn die DDR gespielt hat gegen Positionen zwischen 5 und 12 in der Welt, dann war zu 80 Prozent klar, dass das Spiel gewonnen wird. Das war beim VfL in den ersten Jahren bei mir auch der Fall. In der Bundesliga war zu 90 Prozent klar, dass das Spiel gewonnen wird. Und das haben wir jetzt international bei der Männermannschaft im Moment jedenfalls nicht. Wir können gewinnen, sicher auch gegen jeden – das schließt auch Dänemark und Frankreich ein – aber das ist einmal von sieben Spielen, wo wir eine Chance haben.“

Zu „Ihrer“ Torhüterposition: Haben wir auf dieser Position den absoluten Weltklassespieler, wie Sie und Wieland Schmidt es mal waren?

Andreas Thiel: „Punktuell ja, auf Dauer noch nicht. Silvio Heinevetter ist ein außergewöhnlicher Torhüter. Er war auch bislang in der Lage, an einem guten Tag für seine Mannschaft das Spiel nahezu im Alleingang zu entscheiden. Was mir aber noch im Vergleich zu Wieland fehlt, ist noch eine Weltmeisterschaft oder Europameisterschaft auf einem konstant berechenbaren Niveau zu spielen. Es gab mal so einen Spruch, den habe ich als Junge über den Torhüter Bert Trautmann von Manchester City gelesen, der als Kriegsgefangener später in England auch mal ‚Fußballer des Jahres‘ (1956 – d. R.) war, der hieß: Er ist immer gut und oft ist er fabelhaft. Und dann gibt es noch Tage, an denen verrichtet er übernatürliche Dinge. So muss ein Torwart sein. Immer ein gewisser Grundlevel. Das hat Wieland gehabt und das gestehe ich auch unbescheiden mir im Schnitt zu. Das fehlt mir manchmal. Sichere 12 Bälle, die muss der Mann hinten in der Kiste bringen.“

Angelehnt an den Spruch von Vlado Stenzel, dass die sehr guten Trainer auch mal einen Titel gewinnen müssen und sich dadurch von den guten Trainern unterscheiden …

Andreas Thiel: „Jein. Das kann ich so nicht unterstreichen. Denn ein großes Turnier gewinne ich nicht nur, weil ich ein guter Trainer bin sondern weil ich hinreichende Qualität im Kader habe. Es gibt viele sehr gute Trainer, die aus ‚Gurkentruppen‘ etwas reißen. Ich persönlich habe große Sympathie für Otto Rehhagel und seine Griechen. Ergebnisfußball ja meine Güte, das ist das, was ein Trainer machen muss. Mit dem Material, was ich habe, das Beste herausholen. Man kann sicherlich mit Frevel in der Stimme sagen, THW Kiel nicht in diesem Jahr, aber in den Jahren vorher, da kann ich mich auch auf die Bank setzen. Deshalb unterstreiche ich das so nicht.“

Was fehlt unserer Frauen-Nationalmannschaft noch bis zur absoluten Weltspitze?

Andreas Thiel: „Was den deutschen Frauen ganz speziell fehlt, das hören die Mädels zwar nicht gerne, aber ich sage es ihnen auch persönlich, deswegen kann ich es auch öffentlich sagen, das ist die Bereitschaft zur Schmutzigkeit, um ein Spiel zu gewinnen. Der schmutzige Trick zur rechten Zeit erleichtert das Gewinnen. Frauen sind nicht in der Lage, die notwendige körperliche Härte an den Tag zu legen. Sie sind nicht in der Lage, einen sicheren Ball beim Gegenstoß am Schädel vorbei zu werfen. ‚Ach nö Andy, das können wir doch nicht machen.‘ Da muss ich mich hinterher nicht wundern, wenn ich wieder heule, weil ich nicht gewonnen habe.“

Aber punktuell läuft es doch …

Andreas Thiel: „Wenn es läuft, kann jeder ein Spiel gewinnen. Gut spielen und gewinnen kann jeder. Schlecht spielen und gewinnen, das ist die Qualität einer Mannschaft.“

Es gelingt uns trotz der Vereinssituation, einige Spielerinnen zur Weltklasse zu führen.

Andreas Thiel: „Punktuell ist das immer möglich. Es gibt immer wieder Sportlerinnen und Sportler, die das gewisse Etwas vom lieben Gott mit bekommen haben. Das ist der Faktor Talent.“

Richtung Heim-Weltmeisterschaft 2017: Haben wir jetzt die richtige Konzeption und den richtigen Bundestrainer, der die Frauen ins Halb- oder Finale bringen kann?

Andreas Thiel: „Bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land ist alles, was nicht Halbfinale ist, eine Enttäuschung. So ehrlich muss man zu sich selbst sein. Man muss nicht den Titel holen, aber die letzten Vier muss man zu Hause erreichen.“

Und ist der Bundestrainer konzeptionell auf dem richtigen Weg?

Andreas Thiel: „Ja. Im Großen und Ganzen sind keine erheblichen Einwände zu erheben. Dass jeder, der sich im professionellen Bereich tummelt, da oder dort eine andere Meinung hat oder jemand anderen spielen lassen würde, hat ja nicht mit grundsätzlicher Richtigkeit zu tun.“

Da ist mit Bob Hanning sicher noch mehr Schwung ins Verbandsleben herein gekommen?

Andreas Thiel: „Das mag ins Verbandsleben so reingekommen sein, aber ob Bob Hanning sich wirklich für den Frauen-Handball interessiert, wage ich zu bezweifeln.“

Was erwarten Sie als Signal oder sogar Fanal von diesem Final4 in Leipzig?

Andreas Thiel: „Von dem Final4 erwarte ich sicherlich kein bundesweites Fanal. Das ist eine vermessende Erwartung. Was ich erwarte, ist, zwei Tage trifft sich die Großfamilie Frauen-Handball, und das ist ja auch so. Jede weiß von jeder, mit den neuen Mitteln, wer mit wem Schluss gemacht hat. Es ist immer noch eine große Familie. Dieser Standort Leipzig ist der beste für den deutschen Frauen-Handball. Wir haben mit Kay-Sven Hähner einen, der das seit Jahren professionell und auch mit Leidenschaft macht. Aber zwei Tage auch für die ‚Dorfköniginnen‘ eine große Kulisse und ein bisschen Fernsehen. Jede Minute Frauen-Handball und dann noch bei den öffentlich-rechtlichen ist gut. Guten Sport wird es auch geben.“

Aber es fehlt medial und in der Vermarktung noch weiterhin der letzte Kick oder Schritt nach vorn …

Andreas Thiel: „Was dafür notwendig ist, glaube ich, wird selbst dafür nicht reichen, eine olympische Medaille. Denken Sie z.B. an die Hockey-Frauen. Die holen fast immer eine olympische Medaille, aber sind nur alle vier Jahre im Fokus. Danach sind sie nicht mal ‚Dorfköniginnen‘. Die sind ‚Viertelsköniginnen‘ in Köln oder sonst wo. Dies ist bei jeder Ballspielsportart der Frauen so und das wird im Zweifel auch so bleiben. Ich habe mal ketzerisch gesagt, nimm dir fünf, die am besten aussehen, und stecke sie in den Playboy. Da hast du wenigstens mal drei Monate Aufmerksamkeit. Allein die sportliche Anerkennung bekommen die Mädels von den Experten und vom fachkundigen Publikum. Aber den Rest der Welt interessiert das doch nicht wirklich!“

Vielen herzlichen Dank für das ausführliche und inhaltsreiche Gespräch der „klaren Worte und Gedanken“ ohne Umschweife.  

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