Vor 40 Jahren: Das Wunder von Wembley 1973

15.10.2013 – PM:

Von Prof. Diethelm Blecking*

Unser Nachbar Polen rüstet in diesen Tagen für einen sportlichen Erinnerungsort, der die Nation damals genauso bewegte wie das „Wunder von Bern“ die Deutschen.

„Ich wurde im Jahre 1976 geboren – zwei Jahre nach dem größten Triumph in der Geschichte des polnischen Fußballs und zwei Jahre vor der Wahl des polnischen Papstes. Während meiner ganzen Kindheit und noch darüber hinaus, war ich völlig davon überzeugt, dass Polen eine alte Fußballgroßmacht und der Papst immer ein Pole ist“. Dieses Zitat, das der Schriftsteller Jerzy Pilch einem seiner Helden fast dreißig Jahre später in den Mund legte, beschreibt bis heute treffend die enorme historische Wirkungsmacht, die das herbstliche „Wunder an der Themse“ und das nachfolgende Sommermärchen 1974 während der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland hatte, selbst für die Generationen der Polen, die 1973 noch gar nicht geboren waren.

Viele polnische Fußballfans renommieren in Kneipengesprächen damit, dass sie die Aufstellung der Mannschaft, die damals in London antrat, lückenlos vortragen können, die Ersatzbank ein-geschlossen. Am 17. Oktober 1973 spielten England und Polen im Londoner Wembleystadion 1:1, aber damit qualifizierte sich Polen zum ersten Mal in der Nachkriegszeit für eine Weltmeisterschaft, und England, der Weltmeister von 1966, mit dem Startrainer Sir Alf Ramsey, war ausgeschieden.

Das Spiel in Polen hatten die Engländer im legendären Schlesischen Stadion in Chorzów 0:2 verloren, aber das englische Team wollte auf eigenem Rasen alles klar machen und unterschätzte dabei die polnische Mannschaft, insbesondere ihren von der englischen Presse als „Fußball-clown“ bezeichneten Torhüter Jan Tomaszewski, der in der Abwehrschlacht nach dem 1:0 durch Jan Domarski zum Helden avancierte.

Spieler wie Lato, Gadocha oder Deyna genießen Kult-Status

Der Trainer der Polen, Kazimierz Górski, der seine Spieler hellsichtig damit motivierte, dass sie bei einem Erfolg ihren Namen in die Geschichtsbücher eintragen würden, Spieler wie der genannte Tomaszewski, dann Grzegorz Lato, Robert Gadocha, Andrzej Szarmach und Kazimierz Deyna genossen anschließend Kult-Status und legten in Wembley die Grundlage für eine nationale oder internationale Karriere.

Im Gedächtnis der Nation ist dieser Tag besonders bewahrt, weil der „underdog“ unter den großen Fußballnationen, die polnische Mannschaft, bei der anschließenden Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland eine überragende Rolle spielte und erst in der „Frankfurter Wasserschlacht“ durch den späteren Weltmeister Deutschland gestoppt wurde. Polen schlug am Ende im Spiel um den dritten Platz sogar Brasilien.

Im kleinen polnischen Wirtschaftswunder nach der Ablösung von Władysław Gomułka als Erstem Sekretär durch Edward Gierek im Dezember 1970 genoss das Land in positiver Identifikation mit seiner strahlenden Mannschaft europaweite Anerkennung.

Unter den Gratulanten der ersten Stunde war nach dem Sieg in London auch der deutsche Außenminister Walter Scheel gewesen, der die polnische Mannschaft mit warmen Worten zur Weltmeisterschaft in die Bundesrepublik einlud.

Die Entspannungspolitik, konkretisiert im Warschauer Vertrag von 1970, und die Wirtschaftsreformen, die den Polen höhere Reallöhne und, nicht nur symbolisch mit den Lizenzen für Fiat-Autos und Coca-Cola, einen höheren Lebensstandard und bessere Konsummöglichkeiten erschlossen, waren Trümpfe in der Hand der polnischen Führung. Der Erfolg in London und die folgenden Triumphe flankierten das Gefühl eines Aufschwungs.

Dekade des polnischen Dreamteams

Nach dem Defensivmatch in Wembley trat die Mannschaft während der anschließenden Welt-meisterschaft in Deutschland mit einem dazu passenden attraktiven, hochmodernen Offensiv-fußball auf, vorgetragen von Hochgeschwindigkeits-Fußballern wie Grzegorz Lato und den anderen elegant aufspielenden Mitgliedern der Équipe.

Diese weltweit die Menschen beeindruckende Vorstellung krönte die „reprezentacja“ dann genauso spektakulär, eben mit einem Sieg über die Fußball-Großmacht Brasilien. Damit begann die Dekade eines „dreamteams“, das diese groß-artige Platzierung 1982 bei der Weltmeisterschaft in Spanien mit dem Stürmer Grzegorz Lato wiederholte.

Edward Gierek und seinen Unterstützern in den Medien diente dieser sportliche Glanz auch als Beweis für die Lebenskraft und Zukunftsfähigkeit des sozialistischen Systems und des neuen Reformkonzeptes eines „Zweiten Polens“, wie das politische Etikett für die anvisierten politischen und ökonomischen Reformen Reformen hieß. Im Grunde wurden die Siege der großen Elf von Kazimierz Górski als Ausweis für die Vitalität des Systems gewertet.

Diesem System war allerdings nur noch eine Gnadenfrist bis 1980 gewährt, als in Danzig die Axt nicht nur an die Pfosten der politischen Ordnung der Volksrepublik Polen gelegt wurde. Erstaunlich bleibt, dass der polnische Fußball seine großen Erfolge ausgerechnet in der Zeit des Kommunismus feierte.

Wer sich das unglaublich spannende Spiel anschauen will, findet es mittlerweile auch im Internet. Einer der „Helden von Wembley“, Grzegorz Lato, firmierte noch als Präsident des polnischen Verbandes während der Europameisterschaften von 2012, die für die polnische „kadra“ so unglücklich verlief.

* Der Autor ist Sporthistoriker am Institut für Sport und Sportwissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 

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