Sportgeschichte: Das Ende des jüdischen Sports in Deutschland

05.11.2013 – PM:

75. Jahrestag der Reichspogromnacht           Von Prof. Lorenz Peiffer*

Am 9. November 1938 brannten im gesamten Reichsgebiet die Synagogen, jüdische Geschäfte und Einrichtungen wurden zerstört und geplündert, die jüdischen Menschen aus ihren Häusern geholt und durch die Straßen gejagt. Juden „aufholen“ nannten es die beteiligten SA-Männer.

Endstation der nächtlichen „Aufholjagd“ waren häufig Vieh- oder Turnhallen, in denen die Juden zusammengetrieben wurden. Nicht selten erfuhren dann die jüdischen Opfer eine besondere Form des „Sport Machens“, wie es die SA nannte. Die völlig erschöpften, gedemütigten und demoralisierten Menschen mussten unter dem Gespött der SA-Männer laufen, kriechen, bock-springen usw.: Sport wurde zum Mittel der Gewalt! Wer die Grenzen seiner physischen Leistungsfähigkeit überschritten hatte und zusammenbrach, wurde geschlagen und getreten – manchmal bis zur Bewusstlosigkeit.

In dieser Nacht wurden auch die Emder Juden in ihre alte Turnhalle eingesperrt. Fünf Jahre nach seinem Ausschluss aus dem Emder Turnverein sollte der jüdische Arzt Dr. Kretschmer auf diese Weise seine alte turnerische Wirkungsstätte wieder betreten. Was dort mit den eingesperrten Juden geschah, schildert ein Zeitzeuge:

„In der Nacht darauf, das war die Nacht von Donnerstag auf Freitag, wurde mit uns viel Theater gemacht. (…) Wir mussten kriechen. Die ganze Nacht wurde mit uns sogenannter Sport getrieben. Ich habe dann noch eine Strafe bekommen, weil ich gelacht hatte. Als junger Mensch habe ich das alles als komisch empfunden. Ich musste dann raus auf den Schulplatz und, wie beim Militär, auf, nieder, auf, nieder, willst du wohl laufen! Da habe ich gedacht, jetzt schmeißen die dich auch gleich ins Wasser, wie Poldy Cohen (Leopold Cohen wurde in der Pogromnacht von SA- und SS-Männern schwer misshandelt und dann in den Kanal geworfen. Er konnte sich jedoch selbst retten, L.P.). Aber das haben sie nicht getan. Sie haben mir nur so blöde Fragen gestellt, ob ich den Talmud kenne. Ich sagte, ich hätte davon gehört, aber kennen täte ich ihn nicht. (…). Dann musste ich auf dem Schulhof weitermachen. Das ging so eine halbe Stunde, und dann hat er mich wieder gefragt. Ich habe immer dieselbe Antwort gegeben. Dann habe ich mir gedacht: ‚So komme ich nicht weiter.’ Und als er mich wieder fragte, habe ich gesagt: ‚Na ja, wenn Sie es sagen, dann wird es wohl stimmen’. Da schrie er: ‚Warum denn nicht gleich so!’ Ihm war es kalt geworden draußen. Ich konnte wieder reingehen.“

In Aurich wurden die Juden in die Landwirtschaftliche Halle verbracht, wo sie – so ein Zeitzeuge – „in entwürdigender Weise zum Laufen, Bockspringen und Exerzieren gezwungen wurden, jeweils begleitet von Schlägen und Tritten der SA-Leute (…). Sie mussten im Laufschritt Runden drehen, über die dort befindlichen Anbindevorrichtungen für Vieh springen, exerzieren, Bockspringen und Drittenabschlagen ausführen. Dabei wurden sie mit Fußtritten und Schlägen angetrieben“.

Am nächsten Morgen wurden sie auf den Sportplatz geführt, auf dem sie wenige Jahre zuvor noch ihre Handballspiele ausgetragen und Leichtathletik getrieben hatten. Beobachtet von einer großen Menge neugieriger Zuschauer, machte der SA-Sturmführer B. mit den jüdischen Männern noch „Freiübungen“, wie er es in einem späteren Prozess nannte, bevor sie in Gruppen eingeteilt Entwässerungsgräben ausheben mussten. Auch von dieser Form der Demütigung und Gewalt berichtet ein Zeitzeuge:

„Er exerzierte daraufhin mit den Juden in der Weise, dass er sie hin- und herjagte und in einer Pfütze von 10 x 20 m Ausdehnung hinlegen ließ. Als die Juden sich auf Hände und Füße stützten, um ihre Kleidung nicht zu beschmutzen, gingen er und die anderen SA-Leute dazwischen und traten die Juden auf den Rücken, so dass sie sich in das Wasser legen mussten. Dieses Exerzieren dauerte etwa eine Stunde; dann kam das bestellte Arbeitsgerät und die Juden begannen mit der Arbeit.“

Völlig zerstört wurde in dieser Pogromnacht auch das Büro des Präsidenten des deutschen Makkabi-Verbandes, Dr. Hans Friedenthal. Er fand nur noch einen Trümmerhaufen vor. Als er sich bei der Gestapo beschwerte, wurde er mit der Bemerkung abgewiesen: „Jetzt ist es mit dem jüdischen Sport sowieso zu Ende.“

Bereits unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme hatte die Diskriminierung der jüdischen Sportlerinnen und Sportler begonnen. In vorauseilendem Gehorsam schlossen deutsche Turn- und Sportvereine und -verbände ihre jüdischen Mitglieder aus ihren Reihen aus.

Dieses Schicksal haben unzählige jüdische Sportlerinnen und Sportler erlitten: wie z. B. die Turner Alfred und Gustav Felix Flatow, die bei den ersten Olympischen Spielen 1896 in Athen Olympiasiege für ihr Vaterland Deutschland errungen haben, wie Julius Hirsch, der für die deutsche Fußballnationalmannschaft Tore geschossen hat und wie David Prenn, der für das deutsche Tennis-Davis-Cup-Team zahlreiche Siege erspielt hat. Alfred und Gustav Felix Flatow und Julius Hirsch wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet, David Prenn konnte den Nazi-Schergen durch seine Emigration nach England entkommen. Ihre bisherigen sportlichen Erfolge, ihre langjährigen Mitgliedschaften zählten von heute auf morgen nicht mehr. Als Juden hatten sie keinen Platz mehr in der angestrebten nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, aus dem kollektiven nationalen Sportgedächtnis wurden sie getilgt.

In dieser ersten Phase der Diskriminierung und Verfolgung blieb den Ausgeschlossenen nur die Möglichkeit, sich in eigenen, jüdischen Sportvereinen zu organisieren. Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme waren in den Vereinen des deutschen Makkabikreises, des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF) sowie im Verband Jüdisch-Neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschland insgesamt ca. 15.000 jüdische Sportlerinnen und Sportler organisiert, die Mehrzahl der jüdischen Sportlerinnen und Sportler war bis 1933 Mitglied in den deutschen, paritätischen Turn- und Sportvereinen.

Ab dem Frühjahr/Sommer 1933 entstanden überall im deutschen Reich neue jüdische Turn- und Sportvereine und die bereits bestehenden Vereine und Sportgruppen erlebten einen starken Mitgliederzuwachs. Im Jahre 1934 zählte der Sportbund des RjF bereits 17.000 Mitglieder in 156 Sportgruppen und im 1. Halbjahr 1936 21.000 Mitglieder in 216 Sportgruppen. Die Mitgliederzahl in den Vereinen des Makkabi-Kreises war von ehemals ca. 3.000 Mitgliedern auf mehr als 21.000 gestiegen.

Die alten und neuen Sportvereine waren in der Zeit der Diskriminierung und Verfolgung mehr als nur ein Ort der sportlichen Freizeitgestaltung. Sie waren Orte, die – wenn auch nur begrenzt – Freiräume boten zur Selbstentfaltung und zur Erfahrung von Solidarität. Die Selbstorganisation in eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Organisationen war ein wesentliches Element der Selbstbehauptung der jüdischen Bevölkerung in ihrem täglichen Überlebenskampf im nationalsozialistischen Deutschland.

Als am 9. November 1938 in Deutschland die jüdischen Synagogen brannten, wurde auch das jüdische Kulturleben ein Opfer der Flammen. Nach dem 9. November 1938 gab es keinen organisierten jüdischen Sport im nationalsozialistischen Deutschland mehr.

* Lorenz Peiffer ist Professor für Sportwissenschaften an der Universität Hannover und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „SportZeiten“. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert